Georg Wilhelm Pabst 
 
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Georg Wilhelm Pabst: Glanz und Elend Hollywoods

Trotz des Aufschwungs, den der „Sprechfilm" genommen hat, bin ich nach wie vor der Überzeugung, daß der Text als solcher im Kino so gut wie keine Rolle spielt. Was zählt, ist das Bild. Darum behaupte ich ferner, daß nicht der Drehbuchautor oder die Darsteller, sondern vielmehr der Regisseur der eigentliche Filmschöpfer ist.
Die Filmfirmen - allen voran die amerikanischen Gesellschaften - scheinen dies leider nicht zur Kenntnis zu nehmen. Wenn ein Regisseur einem Film seinen Stempel aufzudrücken vermochte, wie dies in Europa bis vor wenigen Jahren immerhin noch der Fall war (obwohl auch das bei uns inzwischen extrem schwierig geworden ist), so war dies in Hollywood von jeher ausgeschlossen. Dort trägt der Regisseur weder künstlerische noch finanzielle Verantwortung; er ist nur eines von zahlreichen Gliedern einer Kette, aus denen sich die verschiedenen Abteilungen zusammensetzen, die man zur Herstellung eines Films benötigt.
Bedenkt man ferner, daß Hollywood jährlich fünfhundert bis sechshundert Filme herausbringt und allein acht namhafte Regisseure jeweils zwischen fünfzig und sechzig Filme inszenieren, dann wird offenkundig, daß kein „Genie" gute Qualität in solcher Quantität zu liefern imstande ist, sondern einzig die mit äußerster Kraft betriebene Standardisierung eine Nachfrage dieser Größenordnung befriedigen kann. 
Eine große kalifornische Produktionsgesellschaft delegiert die Arbeit nicht selten an vierzig bis fünfzig Abteilungen, kleine Teams, die untereinander so gut wie keine Verbindung haben. Jeder Bereich hat einen Chef, einen Assistenten, eine Sekretärin, einen ganzen Mitarbeiterstab. Der Mann an der Spitze der Gesamtorganisation, stets intelligent, aktiv, fleißig, kann seine Begabung im allgemeinen nur sehr begrenzt entfalten. Scheuklappen machen ihn blind für andere als die einmal angenommenen und akzeptierten Aktionsfelder.
Dem Regisseur wird das Sujet des Films in Form eines minutiös ausgearbeiteten Drehbuchs vorgegeben. Er darf weder ein Wort noch einen Aufnahmewinkel ohne Genehmigung verändern. Es käme ihm im übrigen auch gar nicht in den Sinn, so etwas zu verlangen.
Auch wenn wir wohl einräumen müssen, daß die Machart eines durchschnittlichen amerikanischen Films noch unseren besten Arbeiten überlegen ist, so deshalb, weil man dort stets alles einem Spezialisten anvertraut. Es gibt Spezialisten für Verfolgungsjagden, Spezialisten für Kriegsszenen, Spezialisten für Gesellschaftsempfänge. Bestimmte Firmen lassen sogar von einem Mitarbeiter die Innenaufnahmen drehen, während ein anderer gleichzeitig die Außenaufnahmen in Angriff nimmt. 
In einer Organisation, innerhalb der die Arbeit so streng aufgeteilt ist, beschränkt sich die Aufgabe des Regisseurs ganz auf die Führung der Schauspieler, die, einem simplen Schema gehorchend, kaum dazu geeignet ist, dem Film eine Handschrift zu verleihen. Die bereitwillige Anpassung an die amerikanische Produktion könnte nicht nachhaltiger gewährleistet werden als mit solchen Arbeitsmethoden.
Es sei daran erinnert, daß es einem angesehenen Regisseur in Amerika zuweilen gestattet wird, einen Film nach seinem Gusto zu drehen. Man nennt dies die „Ferien des Regisseurs" (Director’s Holidays). Doch die Resultate sind fast immer unzureichend. Viele Regisseure haben es verlernt, freie Entscheidungen zu treffen und unabhängig zu handeln.

Wer etwas zu sagen hat, findet stets einen Weg, dies zu tun, ob gut oder schlecht. Wenn man aber nichts zu sagen hat, ist es unabdingbar, daß dieses Nichts vor allem gut gesagt wird. Die Form muß den Inhalt vergessen lassen beziehungsweise den fehlenden Inhalt kaschieren. Das genau ist es, was Hollywoods Genialität ausmacht, die sich in der perfekten Wahl eines jeden Rädchens im Getriebe manifestiert, das man zur Herstellung eines Films braucht. Dort ist noch der geringste Mitarbeiter, sei er im Tonbereich, im Labor oder in der Aufnahmeequipe tätig, ein ausgesprochenes „As". Bei den Technikern also hat der schöpferische Geist sein Refugium gefunden. Der Rest kennt nur eine Religion: den Scheck.
Doch eines muß  man Hollywood lassen: alles ist dort - vom Standpunkt der Arbeit aus betrachtet - Allgemeingut. Stars, Produzenten, Regisseure, Angestellte im technischen Bereich haben untereinander keine Berufsgeheimnisse. Nichts erstaunt einen Europäer mehr als dieser „Kommunismus", der besser als alle Reden das Organisationsmodell der Filmkapitale erklärt und die hervorragende Arbeitsatmosphäre, die in diesem Lande herrscht. Natürlich bleibt das nicht ohne Folgen für die Bilder, wenn man alle Karten auf den Tisch legt und im Zweifelsfalle lieber zum Telefonhörer greift als zu riskieren, falsch zu spielen.
Doch gerade wegen dieser Dinge werden die Amerikaner sich niemals unserer Sichtweise anschließen. Für einige von uns ist das Kino immer noch eine Kunst, für sie ist es eine Industrie, ein Geschäft. Und als gute Geschäftsleute wollen sie dem Publikum um jeden Preis geben, was das Publikum ihrer Meinung nach verlangt.
Auch wir laufen Gefahr, an diesem Gebrechen zu erkranken. Noch vor wenigen Jahren hatten wir ein Publikum von drei bis vier Millionen, das Eintritt zahlte, weil es intelligente Filme sehen wollte. Inzwischen ist der Markt dafür zu klein und die Konkurrenz von Hollywood zu groß, als daß man sich diesen Luxus noch erlauben könnte.

Hinzu kommt, daß wir in Europa die Fesseln der Zensur besonders zu spüren bekommen. Zweifellos gibt es sie auch in Hollywood, doch dort hat sie wenig Grund, überhaupt tätig zu werden. Bei uns hingegen, die wir uns in unseren Filmen mit Vorliebe Themen zuwenden, welche die Dramen des Lebens, ja der Nationen berühren, macht die Zensur ihren Einfluß in einer Weise geltend, die nicht nur die Wahrheit verschleiert und uns daran hindert, aufrichtig zu sein, sondern oftmals auch den Film aus seinem Zusammenhang reißt, der dadurch nicht selten nahezu unverständlich wird.
Die Zensur gibt vor, dem Wohl des Publikums zu dienen, doch die Zensur irrt, wenn sie glaubt, das Publikum sei dümmer als sie selbst. In meinem letzten Film beispielsweise, der während des Weltkriegs spielt, fiel eine Szene komplett der Schere zum Opfer. Eine Panik war während eines Balls in einem großen Hotel hinter den Linien ausgebrochen, als feindliche Flugzeuge das Haus bombardierten. Ich hatte Offiziere gezeigt, die gemeinsam mit den Frauen in den Keller flüchteten, um dem Massaker zu entgehen.
Diese Szene wurde geschnitten, weil man dieses Verhalten als entehrend, als Ausdruck von Feigheit erachtete. Ich hingegen bin sicher, daß das Publikum sehr wohl verstanden hätte, daß es keineswegs mutig gewesen wäre, sein Leben grundlos aufs Spiel zu setzen, ohne wen oder was auch immer verteidigen zu können, sondern töricht und verwegen. Geradezu gefährlich sind im Gegensatz dazu diese Bilder, wie sie uns die Joan Crawfords präsentieren, die sich umgeben von unechtem Luxus auf märchenhaften Betten räkeln und den jungen Frauen als einzig erstrebenswertes Ziel ein Leben des Müßiggangs und des Lasters vorgaukeln - diese Bilder, sage ich, werden nicht im mindesten zensiert.
Die Filmkunst bleibt das wirksamste Ausdrucksmittel, das wir bisher kennen. Noch wirksamer und mächtiger als das gedruckte Wort, denn im Unterschied zum Schauen und Betrachten will das Lesen gelernt sein. Und genau in dieser Ausdrucksstärke ist der Grund dafür zu suchen, daß man ihr Fesseln anlegt und sie im Keime zu ersticken sucht.

„Servitude et Grandeur de Hollywood". In: Rôle Intellectuel du Cinéma. Paris, 1937. zitiert nach: Jacobsen, Wolfgang (Hg.): G.W. Pabst. Berlin: Argon 1997. 129-131.