| Georg
Wilhelm Pabst: Über zwei meiner Filme [...]
Als erstes möchte ich vielleicht über ein Werk sprechen, das Sie sicherlich
oder hoffentlich kennen: Kameradschaft.
Es war knapp nach dem Erscheinen und
der Übernahme der Arbeit durch den Tonfilm; unser politisches, unser soziales,
unser menschliches Interesse galt damals wie heute dem Begriff „Europa". Wenn
wir von Europa sprechen, so meinen wir natürlich in erster Linie die Hemmung
der Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland. Dies war 1929, 1930 genauso
wichtig wie heute - und Sie können sich denken, daß ich daher mit viel
Freude dem Vorschlag des Schriftstellers Karl Otten gefolgt bin, der mir zu diesem
Zweck - zu der Fragestellung, warum immer wieder Krieg und Feindschaft zwischen
diesen beiden Staaten sein solle - ein Beispiel aus der Geschichte der beiden
Länder darbot: das Bergwerksunglück von Courrières im Jahre 1906.
Wir verlegten für den Film die Geschehnisse des Falles um 13 Jahre, also
auf 1919.
Aber was waren das für Jahre? Vorher
gab es zwar auch schon eine Grenze - aber 1919 geschah etwas, was außerordentlich
war: in den lothringischen, in den rheinischen Bergwerken (übrigens geschah
dasselbe auch in Polen, in Schlesien) schnitt die neue Grenze mitten durch die
Stollen, d.h. also sie ging sichtbar von der Oberfläche der Erde 1000 Meter
tief hinunter, durch Gestein und Wasserfälle, und in dem Fall, von dem ich
spreche, war in 1000 Meter Tiefe ein Stollen von der Teilung betroffen und da
stand ein Gitter. Stellen Sie sich bitte vor, 1000 Meter unter der Erde stand
regelrecht ein Gitter und darüber stand „Grenze 1919"! Ich
möchte in einigen Worten den Inhalt des Films erzählen: Im französischen
Teil des Bergwerks bricht ein Feuer aus, überrennt alle Hindernisse und beginnt
die ganze Grube in seine Macht zu ziehen. Die französische Bergwerksverwaltung
hatte nun nicht die nötigen modernen Rauchapparate und Rettungsgeräte,
die zur Bekämpfung des Feuers und Rettung der eingeschlossenen Bergleute
erforderlich gewesen wären. Doch in der benachbarten Zeche, nur durch das
Gitter getrennt, waren all diese Geräte bei den deutschen Verwaltungen vorhanden.
Um Erlaubnis der Direktion wurde angesucht, doch diese nicht gegeben, schließlich
erzwungen - und dann brachen die deutschen Bergleute über die Grenze und
halfen ihren französischen Kumpels, um zu retten, was zu retten war; sie
drangen in die flammenden, rauchenden, vergasten Minen und holten über 1400
Bergleute aus den toddrohenden Stollen.
Wir fragten uns: Wenn das im Frieden
geschehen kann, wenn Hunderte von Männern bereit sind, ihr Leben zu opfern,
um dem Nachbarn zu helfen, warum kann nicht auch in anderen Fällen so ein
Kameradschaftsverhältnis geübt werden? Das
also war das Motiv, das war der Stoff. Wir fragten uns nun weiter: Wie soll dieser
Stoff gestaltet werden? Da kamen wir darauf, daß es wohl das Beste sei,
diesem gewaltigen Thema, das so aktuell in die Gegenwart hineinschlägt, die
Form einer Wochenschau zu geben, d.h. jede Einstellung, jede Szene darauf zu prüfen,
ob sie sich in Wirklichkeit so abspielen könnte, ob sie in Wirklichkeit so
aussehen würde.
Das war vor allem eine Frage des Raumes.
Der Architekt und der Kameramann hatten da ein gewichtiges Wort mitzusprechen.
Wir mußten den Bergwerksbau so bringen, daß er die Situation glaubhaft
darstellt. Es war unmöglich, mit unseren ungeheuren Filmgeräten in wirkliche
Minen einzufahren und dort die Aufnahmen des brennenden Stollens zu drehen. Wir
mußten also keine Arbeit und Mühe scheuen, um die Wirklichkeit vorzutäuschen;
wir wollten nicht einmal einem Geologen die Möglichkeit geben, uns nachsagen
zu können, das sei nicht der Wirklichkeit entsprechend. Unser Architekt hatte
dazu den Einfall, Gipsabgüsse vom Gestein der Minen zu nehmen und diese ins
Atelier zu setzen und aufzubauen. Sogar die Fachleute, die Geologen, konnten also
feststellen, aus welchem Teil, aus welchem Grad und welcher Höhe die im Atelier
aufgebauten Stollen stammen könnten. Dafür benötigten wir zwölf
Waggons Material, darunter zwei Waggons Kohlenstaub, denn dieser beherrscht in
den Minen in hohem Maße das Bild.
Hier möchte ich etwas vorwegnehmen;
es gelang uns, in einem solchen Grade die Wirklichkeit vorzutäuschen, daß
wir - als der Film fertig war und in der Zwischenzeit der Nationalsozialismus
an die Macht gekommen war - die Anklage erleben mußten, der (frühere)
Staat hätte uns die Minen zur Verfügung gestellt, um solche feuergefährliche,
furchtbare Aufnahmen machen zu können. Es wurde sogar ein Reichstagsausschuß
mit den Spitzen der Bergbaubehörden, Journalisten und Politikern, insgesamt
13 Herren, eingesetzt, um dies zu überprüfen. Und ich muß sagen,
es war eine große Freude für mich zu erleben, daß alle 13 - auch
die Fachleute -, als sie den Film gesehen hatten, nicht bemerkten, daß alles
nur im Atelier gebaut war. Also sagte ich mir, da muß es einigermaßen
gestimmt haben! Vielleicht
ist es auch interessant, daß noch etwas anderes Neues in dem Film war, daß
wir nämlich 1931 schon etwas vorwegnahmen, was weit später in Italien
einen Weltsieg errang: den Neoverismo.
Zu der Art, wie wir mit dem Material
verfuhren, möchte ich erwähnen, daß ich der Kamera Aufgaben stellte,
die sie zwang, Wochenschaubilder zu liefern. Ich umschloß sämtliche
Bauten wie in Wirklichkeit. Die Stollen - besonders in Nordfrankreich, wo ja ein
Teil des Films spielt - sind in ihren letzten Verzweigungen nicht sehr hoch, während
sie in Felsenkirchen (sic !) z.B. bis zu 2 Meter und darüber sind; bei meinen
Besuchen der französischen Minengänge habe ich oft nur Höhen von
60 Zentimetern vorgefunden. Stellen Sie sich vor, daß da der Bergmann hineinmußte
- und nun auch Fritz Arno Wagner mit der Kamera ! So konnte er kein „schönes"
Bild schaffen - und so war auch ich gezwungen, die „Wochenschauidee" bei mir selbst
durchdrücken zu helfen.
Ich nahm für die Rollen auch keine
Schauspieler mit großen Namen, keine Stars. Die Schauspieler, die ich auswählte,
waren zwar gut, aber in ihrem Niveau durchaus nicht Filmdarsteller erster Klasse.
Die weitaus überwiegende Anzahl der Mitwirkenden war echt, d.h. es waren
wirkliche Bergleute und Ingenieure mit ihren Frauen und Familien. Hier half mir
etwas; ich mußte einen Teil in deutschen Minen drehen, in Gelsenkirchen,
aber dieselben Minen auch in Frankreich. Nun hatte ich Angst, daß mir die
zwei Teile der Komparserie nicht ganz übereinstimmten. Da kam mir der Zufall
zu Hilfe - denn in Gelsenkirchen waren es hauptsächlich polnische Familien
und polnische Abkömmlinge, die als Bergleute arbeiteten - und ebenso war
es auch in Nordfrankreich, d.h. hier Polen und dort Polen. So hatte ich das äußere
Bild geschlossen vor mir. Auf diese Weise kamen wir zu einem wichtigen Ereignis;
wir brachten die französischen Teile aus Frankreich mit, sogar die Komparserie,
Und auf diese Weise hatten wir den Teil einer neoveristischen Stilfolge geschaffen,
ohne daß wir daran bewußt dachten. Hier ist das, was ich vorhin sagte,
wir machten damals Geschichte, ohne es zu wissen.
Als der Film dann später aufgeführt
wurde, tauchte eine zweite Frage auf. Die deutschen Bergleute, die die französischen
gerettet hatten, trafen sich dann am Ende des Films mit ihren geretteten Freunden
und Kumpels und beide Seiten sprachen durch ihre Vertreter den Wunsch und die
Hoffnung aus, daß die Freundschaft, die sich unter diesen Gefahrenelementen
gebildet hatte, auch weiterhin Bestand haben und auch für die Zukunft beider
Länder als freundschaftliche Länder verbinden sollte. Ich war mir bewußt,
daß das Sentimentalität, daß das nur eine Hoffnung sei - aber
jedenfalls sollte die Begeisterung und der Freundschaftswunsch der Arbeiter in
dieser Szene ausgedrückt werden. Aber dann hängte ich eine Szene an,
in der das Gitter - 1000 Meter unter der Erde -, das im Verlauf der Rettungsaktion
durchbrochen wurde, wieder neu eingefügt wird. Die Gendarmen und Zöllner
beider Länder untersuchen das Gitter und sagen: „Na, das wird jetzt besser
halten!"
Aber was geschah? Das Publikum im Kino
hat diesen Schluß niemals zu Gesicht bekommen! Ich habe noch von keinem
Filmtheater gehört, das diesen Schluß nicht einfach wegschnitt: „Wenn
die Arbeiter so reden, dann ist der Applaus da; aber wenn der Schluß angehängt
ist, gehen ja alle Leute niedergeschlagen nach Hause!"
Ich möchte dies erzählen,
damit Sie sehen, womit wir zu kämpfen hatten. Aber der Erfolg dieses Gedankens
wurde mir durch einen Bocksprung verständlich gemacht. Zehn Jahre später
nämlich wendete sich das Reichspropagandaministerium an mich. Goebbels, der
diesen Film verboten hatte, der das Negativ und sämtliche Kopien in Deutschland
hatte vernichten lassen, fragte mich, ob ich wüßte, wo er eine Kopie
des Werkes noch sehen könnte. Er hatte sich entschlossen, den Film noch einmal
drehen zu lassen. Seinerzeit war er verboten worden, seinerzeit wurde er nach
fünf Tagen abgesetzt (obwohl das Kino für Wochen ausverkauft war), weil
die Nationalsozialisten drohten, das Theater in die Luft zu sprengen. Jetzt, im
Jahre 1941, war es politisch nicht nur tragbar, sondern sogar wünschenswert,
eine Film über die Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich zu machen
und zu zeigen [...] Aus:
Filmkunst: Zeitschrift für Filmkultur und Filmwissenschaft. Jahresband 1960.
21-24. |